Cover
Titel
Die epistemologischen Jahre. Philosophie und Biologie in Frankreich, 1960–1980


Autor(en)
Erdur, Onur
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 24
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 34,00; CHF 34,00
von
Marianne Sommer, Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung, Universität Luzern

Die zwei Jahrzehnte von 1960 bis 1980 in Frankreich, mit denen sich Onur Erdur in seiner Studie befasst, bezeichnet er als «epistemologische Jahre». Als Begründer der modernen Epistemologie in Frankreich gilt Gaston Bachelard, der unumwunden postulierte, dass die Philosophie aus den exakten Naturwissenschaften hervorgehe. Nach Erdur muss man die Geschichte der Philosophie stets auch in ihren Bezugnahmen auf die dominanten Wissenschaften lesen. Für die Epistemologie handelte es sich dabei nicht mehr um die Physik, sondern um die Biologie, genauer die Molekularbiologie. Für ihre Leistungen auf diesem Feld erhielten François Jacob, Jacques Monod und André Lwoff 1965 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Mit der zeitgleichen «Entschlüsselung» des genetischen Codes schien sich eine Revolution anzukündigen: Jacob und Monod, die am Institut Pasteur Karriere machten und Lehrstühle am Collège de France innehatten, waren die französischen Stars der entstehenden Leitwissenschaft. Erdur geht in seinem Buch der «sowohl philosophiegeschichtlich als auch geschichtswissenschaftlich unterbelichtt» (S. 11) gebliebenen Frage nach, wie die philosophische Richtung, die heute auch den schönen Namen French Theory trägt, von molekularbiologischem Wissen im Sinne epistemologischer Ereignisse beeinflusst war. Methodologisch verortet er sich dabei – unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck, Michel Foucault und Bruno Latour – in der Wissensgeschichte. Er nimmt somit auch politische, institutionelle, akademische und kulturelle Bedingungen sowie persönliche Motive in den Blick und fragt, wie Wissen zirkulierte.

In den ersten beiden Kapiteln setzt sich Erdur ausgehend im Jahr 1965 mit der pistemologie und mit der Biologie auseinander. Dabei werden die (nur wenige Strassenzüge voneinander entfernt liegenden) wichtigen Institutionen, an denen beide Disziplinen erforscht wurden, in ihren Austauschzusammenhängen beleuchtet. Zu diesen gehörte das Institut Pasteur mit seiner laborbasierten Wissenschaftsproduktion, die École normale supérieure, die als Ausbildungsstätte einer philosophischen «Kaste» fungierte und auch naturwissenschaftliches Wissen vermittelte, sowie das Institut für Wissenschafts- und Technikgeschichte der Sorbonne, das die Verbindung zwischen Wissenschaft und Philosophie pflegte und eine philosophische Elite in epistemologischem Denken schulte. Für den Austausch über die Disziplingrenzen hinweg sorgte auch das Collège de France. In diesem Netz der Auseinandersetzung mit Wissenschaftsformen bewegten sich Philosophen wie Georges Canguilhem, Louis Althusser, Michel Foucault und Jean Hyppolite sowie die Humanwissenschaftler Claude-Lévi Strauss, Pierre Bourdieu und Edgar Morin. Auch auf Seiten der Biologie formierte sich über die «Pasteur-Connection» so etwas wie ein Denkkollektiv. In dieser auf diverse Institutionen und Fakultäten verstreuten Wissenschaftslandschaft spielten Presse und Radio eine wichtige Rolle für das Zusammenkommen der Akteure und für die Vermittlung von Wissen.

Im dritten Kapitel steht die Entwicklung der Molekularbiologie hin zu einem zentralen Bezugspunkt für die Philosophie im Fokus. Die zeitgenössischen Philosophen verwiesen auf den Bruch zwischen dem natürlichen Gegenstand der in Frankreich noch einflussreichen vitalistischen und lamarckistischen Physiologie und dem biologischen Gegenstand der Molekularbiologie, wobei letzterer labortechnisch erst hergestellt wurde und als eine logische Ableitung einer Erfindung des Lebens zu gelten hatte. Es bedurfte einer neuen Philosophie, um diese neue Wissenschaft zu beschreiben. Canguilhem, der in den 1940er und 1950er Jahren bereits wissenschaftliche Brüche ausgemacht hatte, sollte nun eine wichtige Rolle spielen für die Konzeptionalisierung dieses neuen wissenschaftlichen Denkens. In der 1966 erschienen Neuauflage seiner Doktorarbeit setzte er die Informationstheorie als unteilbar, weil sie nicht mehr zwischen Natur- und Denkprozessen oder zwischen Gegenstand (lebende Materie als Informationssystem) und Erkenntnisvorgang (Information als naturalisierendes Modell) unterschied. Er beobachtete, dass die Molekularbiologie Begriffe wie Botschaft, Information, Programm und Code aus der Sprachtheorie und Kommunikationstheorie übernahm. Dabei erschien das Leben als in Materie eingeschriebener (sprachloser, aus vormenschlichen Zeichenprozessen bestehender) Sinn, der der menschlichen Dekodierung vorgängig ist. Das Geheimnis des Lebens lag scheinbar in einer Serie von Aminosäuren, in der sich die Differenz durch Mutationen materialisiert. Trotz seiner Faszination warnte Canguilhem vor der Erfüllung der Heilsversprechen der Molekularbiologie, etwa dem Ziel, Krankheiten auszumerzen, denn deren Einlösung könnte sich als das schlimmere Übel erweisen.

Auch Michel Foucault machte die Molekularbiologie für seine Erkenntnistheorie fruchtbar. So handelte es sich bei der Episteme um eine Ordnung, die dem menschlichen Wissen zugrunde liegt und ihm (analog dem genetischen Code für den Organismus) vorausgeht. Epistemologie und Strukturalismus teilten einen theoretischen Antihumanismus. Die «Philosophien ohne Subjekt» (S. 137) von Foucault, Strauss, Althusser und Jacques Lacan waren gegen hermeneutische, metaphysische und subjektzentrierte Zugänge gerichtet. Auch Gilles Deleuze, der Foucault als den Erneuerer der Epistemologie las, bezog sich bereits in den 1960er Jahren im Zusammenhang epistemologischer Fragen auf biologisches Wissen. Die im französischen Fernsehen gezeigte Sendung Vivre et parler (1967) macht deutlich, dass es die Philosophen, Anthropologen und Linguisten viel eher als die Biologen waren, die dazu neigten, den genetischen Code nicht nur in Analogie zur Sprache, sondern als natürliche Sprache zu deuten.

Allerdings nahmen die Auseinandersetzungen der Philosophie mit der Molekularbiologie 1968 politische Formen an, wie Erdur im vierten Kapitel seiner Studie zeigt. In diesem Prozess wurde die Kontaktzone zwischen Biologen und Philosophen, wie an der Begegnung zwischen Monod und Althusser vorgeführt, zur Kampfzone. Denn der Biologe gab sich nicht länger mit der Wissensproduktion im Labor zufrieden. Sein Wissen, darauf bestand er, hatte Deutungsmacht für Geschichte und Gesellschaft, womit er in die Hoheitsgebiete der Philosophie eindrang (siehe auch Kapitel 6).

Im Gegensatz zu Monods bestimmtem Auftreten auf der öffentlichen Bühne wurde Jacobs erfolgreiche Geschichte des Vererbungsdenkens, La logique du vivant (1970), von Canguilhem und Foucault hoch gelobt, wie Erdur im fünften Kapitel herausarbeitet. In der Einleitung zum Buch mit der Überschrift «Das Programm» – ein dem Computer entliehenes Modell – erscheint das Leben als vorprogrammiert und der Organismus als blosse Verwirklichung des genetischen Codes. Die Geschichte der Wissenschaft der Vererbung begegnet der Leserin ihrerseits nicht als eine lineare Ideengeschichte, sondern als durchbrochene Serie von Epochen, die durch jeweils eigene Bereiche des Möglichen (Theorien, Vorstellungen, Objekte, Forschungsinstrumentarien, Praktiken etc.) gekennzeichnet sind. Weiter der französischen Tradition der Epistemologie folgend, steht hier nicht das Erkenntnissubjekt einer Wahrheit im Zentrum, sondern die Logik des Lebenden zeigt sich im Rahmen einer beweglichen Maschinerie zur Produktion von Wissen in diesem Bereich des Möglichen. Foucault sah seine Geschichte der Biologie, Les mots et les choses (1966), also nicht nur inhaltlich bestätigt, sondern auch seine Form der Wissensgeschichte als eine Geschichte der Episteme, die er später durch die dynamischere und empirischere Diskursgeschichte, Archéologie du savoir (1969), präzisierte. Erdur resümiert: «Die Ähnlichkeiten zwischen Jacob und Foucault sind frappierend. Es lässt sich der Schluss ziehen, dass Foucault nicht auf inhaltlicher oder gar biologistischer, sondern auf epistemologischer und methodischer Art an Jacob anknüpfte» (S. 238–239). Genealogie zu betreiben bedeutete denn auch für ihn, die Zufälle, Abweichungen, Irrtümer etc. nachzuvollziehen, die an der Wurzel dessen liegen, was wir erkennen und sind.

Erdurs Buch schliesst mit einem Kapitel, das die Ausdifferenzierung und auch den Verlust der Monopolstellung der Epistemologie in der französischen Philosophie ebenso zum Thema hat wie das Ende der «Fixierung» auf Jacob und Monod. Damit ist es im Kontext von Werken wie Philipp Sarasins Darwin und Foucault (2009) oder Henning Schmidgens Arbeiten zu Canguilhem zu verorten, die für die Geschichte der Kulturwissenschaften ebenfalls deren Faszination mit den Lebenswissenschaften thematisieren. Während die Empörung über den Anspruch auf eine generelle Deutungshoheit der Biologie von Seiten der Kulturwissenschaften – wie im Falle Canguilhems mit Bezug auf Monod – ein (leider notwendigerweise) geläufiges Phänomen darstellt, ist die Skala der positiven Bezugnahmen immer aufs Neue mit einem gewissen Staunen verbunden. Besonders kennzeichnend scheint für die französische Epistemologie und den Strukturalismus, dass es gerade darum ging, Sinn als abschliessendes Narrativ zurückzuweisen, zu einer Zeit, in der andere Molekularbiologen wie Emile Zuckerkandl sich daran machten, Geschichte in die Gensequenz einzuschreiben.1 Dabei wurden die Moleküle zu Semantiden erhoben, zu linearen sinntragenden Einheiten, in denen mehr Geschichte präserviert und am Entstehen ist, als auf irgendeiner anderen organismischen Organisationsebene. Gleichzeitig scheint es gerade für Canguilhems Denkbewegungen schwierig, abschliessend festzustellen, ob Geschichte und Gene auf ontischer, methodologischer oder metaphorischer Ebene in ein Verhältnis gebracht werden.

Für die Wissenschaftsgeschichte und die Kulturwissenschaften allgemein ist Erdurs Buch ein lang erwarteter Beitrag, auch wenn einige Protagonisten wie Claude Lévi-Strauss mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Es ist gut strukturiert und klar formuliert, trotz einiger Wiederholungen und mitunter etwas langatmiger Passagen. Darüber hinaus bietet sich die Studie für einen akademischen Unterricht an, der explizit an den Verbindungen zwischen den Disziplinen, auch über Fakultätsgrenzen hinweg, interessiert ist.

1 Vgl. Marianne Sommer, History in the Gene. Negotiations Between Molecular and Organismal Anthropology, in: Journal of the History of Biology 41/3 (2008), S. 473–528.

Zitierweise:
Marianne Sommer: Onur Erdur: Die epistemologischen Jahre. Philosophie und Biologie in Frankreich, 1960–1980, Zürich: Chronos, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 352-354.